77 Jahre danach

„Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer sich an die Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren.“

Diese Worte stammen aus einer der berühmtesten Reden der Deutschen Nachkriegszeit. Es ist die Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker anlässlich des 40. Jahrestages der deutschen Kapitulation, gehalten am 8. Mai 1985 vor den Abgeordneten des Bundestages. Diese Rede ist deswegen ein Meilenstein der deutschen Nachkriegsgeschichte, weil sie sich sehr direkt mit den Verbrechen Deutschlands vor und während des Zweiten Weltkrieges auseinandersetzt und die Gräueltaten der Nationalsozialisten klar benennt.

Der Krieg, an dessen Ende wir heute denken, ist ein Krieg der negativen Superlative. Insgesamt starben bis zu 70 Millionen Menschen (ca. die heutige Bevölkerungszahl von Frankreich), davon 45 Millionen Zivilisten. Polen verlor 15% seiner Bevölkerung. Die europäischen Juden wurden durch die industrielle Deportierung, Gewaltverbrechen und Ermordung auf nur noch eine Millionen Juden reduziert – rund sechs Millionen Juden wurden also durch die Nazis und deren Helfershelfer abgeschlachtet, hingerichtet und verbrannt.

Insgesamt starben rund 17.877.000 Soldaten in Europa, von denen 10.774.000 für die Alliierten kämpften und 7.103.000 für die Achsenmächte (Deutschland und Italien). Hierbei starben alleine 13.876.400 Soldaten während der Kämpfe zwischen Deutschland und Russland. Viele der Zivilisten starben durch verheerende Bombenangriffe auf Städte. Bei dem Angriff Nazideutschlands auf Warschau im September 1939 starben 35.000 Menschen und 12% der Häuser wurden zerstört. Berlin, Hamburg, Frankfurt (am Main) und Dresden waren von Bombenangriffen der Alliierten ebenso schwer betroffen. So starben rund 25.000 Menschen in der Nacht des 13. Februar 1945 in Dresden und Hunderttausende wurden obdachlos. Die psychologischen Schäden vieler Menschen können nicht erfasst werden, sind aber dennoch umso gravierender, da man sie nicht „einfach wieder aufbauen kann.“

Im Zusammenhang mit dem Juni 1945 wird oft von der „Stunde Null“ gesprochen. Diese Formulierung wird nicht von allen gemocht, aber alle sind sich darin einig, dass die deutsche Gesellschaft die Chance zu einem Neubeginn hatte und auch genutzt hat. Vier Jahre nach der Kapitulation trat das Grundgesetz in Kraft und sorgte damit endgültig dafür, dass Grundrechte und die Rechtsstaatlichkeit, die Presse- und Meinungsfreiheit, die Freizügigkeit und Dinge wie eine freiheitlich-demokratische Grundordnung gewährleistet sind.

77 Jahre nach der Kapitulation, 70 Jahre nach Gründung der Montanunion und 32 Jahre nach dem Mauerfall müssen wir aber resümieren, dass Antisemitismus, Antiziganismus und neuerdings auch Antiislamismus sich immer weiter in der Mitte der Gesellschaft verfestigen. „Du Jude“ wird wieder als Schimpfwort und Beleidigung benutzt, wohl wissend, dass man damit eine ganze Religionen  diskreditiert und verleumdet. Anschläge aus dem rechtsextremen Spektrum wie der Mord an Walter Lübcke, der Anschlag auf die Synagoge in Halle, das Massaker in Hanau und die Tatsache, dass Faschisten wieder mehr Stimmen bei Wahlen bekommen, zeigen, dass wir in weiten Teilen noch längst keine tolerante und offene Gesellschaft sind.

Oft steht in dem Zusammenhang mit den NS-Gräueltaten die Frage im Raum: „Wieso sollte mich das interessieren? Das 20. Jahrhundert ist schon lange vorbei. Wir müssen wieder nach vorne schauen.“ Manch einer fordert sogar eine “erinnerungspolitische Wende um 180 Grad”.

Die Antwort auf die Frage ist sehr leicht: Eben wegen der aktuellen Ereignisse. Es ist also unsere Aufgabe, die Aufgabe der Schüler*innen und der Lehrer*innen sich aktiv dafür zu engagieren, dass es nicht noch einmal zu einem Genozid an Juden oder anderen Minderheiten in der Welt, einem Weltkrieg oder Bombenangriffen kommt – das ist unsere Aufgabe. Wir müssen zeigen, dass wir, jede und jeder, aus den Taten unserer Vorfahren gelernt haben. Jeder Ansatz von Rassismus und Antisemitismus darf nicht mehr relevant und zeitgemäß sein.

So erinnern wir uns am 8. Mai an alle, die durch die NS-Politik vertrieben, gedemütigt, verletzt und getötet wurden. Es ist unsere Aufgabe an alle Opfer und diejenigen, die Widerstand geleistet und Zivilcourage bewiesen haben - wie Mitglieder der “Weißen Rose”, Dietrich Bonhoeffer, Georg Elser und Claus Stauffenberg -, zu erinnern und dafür zu sorgen, dass Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit keine Chance in unserer Gesellschaft haben.

Schüler*innen des Schwalmgymnasiums haben als Zeichen für Frieden und Freiheit Photographien und Bilder erstellt, welche sich in unterschiedlicher Weise mit dem Kriegsende auseinandersetzen. Es zeigt einerseits die Mahnung, sich gegen Krieg zu engagieren, andererseits die positive Sicht auf eine friedliche und freie Gesellschaft.

Quelle für die Zahlen:
http://www.centre-robert-schuman.org/userfiles/files/REPERES%20-%20Modul%201-2-0%20-%20Notiz-%20Bilanz%20des%20Zweiten%20Weltkrieges%20-%20DE.pdf

Sekundärliteratur für Interessierte:
Heimatvertriebene Nachbarn (Beiträge zur Geschichte der Juden im Kreis Ziegenhain (Hrsg. H.Bambey, A.Biskamp, B. Lindenthal)) Band I - III

Photograph*innen:

  • Mathis Biesenroth
  • Emma Bartkowiak
  • Chiara Stähling
  • Linus Dietrich
  • Nadine Hirth
  • Luna Schenk
  • Marie Schenk
  • Leni Schmeh
  • Lia Marie Schmitt
  • Setia Ratjaby
  • Tessa Rockensüß
  • Nina Weissbecker
  • Vanessa und Annika Wienzek
  • Luisa Wolf